Erfolg auf ganzer Linie für Datenschützer und Bürgerrechtler: Zehntausende Demonstranten aus ganz Deutschland protestierten gestern in Berlin friedlich gegen den immer stärker ausufernden staatlichen Überwachungswahn. Die Veranstaltung war die größte ihrer Art seit über 20 Jahren.
Das Wetter hätte schöner nicht sein können. Bei blauem Himmel, strahlendem Sonnenschein und Temperaturen oberhalb von 20 Grad taten Demonstranten aus ganz Deutschland gestern ihre Meinung kund zu Themen wie der Vorratsdatenspeicherung, Telefon- und E-Mail-Überwachung, der elektronischen Gesundheitskarte, biometrische Pässe, Videoüberwachung des öffentlichen Raumes und dem Einsatz der Bundeswehr im Innern. 117 Verbände, Vereine, Parteien und Organisationen hatten zur Teilnahme aufgerufen.
Freiheit statt Angst-Demo Berlin 2008: Protestierende vor FernsehturmSchätzungen über die Teilnehmerzahlen variieren stark. Während die Polizei zeitweise von 15.000 Demonstrierenden ausging, Spiegel Online diese Zahl sogar noch großzügiger auf "mehr als zehntausend" abrundet, geben der veranstaltende AK Vorratsdatenspeicherung und auch netzpolitik.org sie mit 100.000 Personen an. Die Wahrheit dürfte irgendwo dazwischen liegen, inoffiziell nennt auch die Polizei eine Zahl von etwa 50.000 Menschen, so Ricardo-Cristof Remmert-Fontes vom AK Vorrat in einem Interview. So oder so - es waren weit mehr als im letzten Jahr. Insgesamt hatte "Freiheit statt Angst" 2008 eine Stärke wie es sie seit den Protesten gegen die Volkszählung in den 80er Jahren keine datenschutzzentrierte Demonstration mehr hatte.
Überraschend gut - man ist von Demonstrationen mitunter anderes gewöhnt - waren die Redebeiträge bei den Auftakt- und Abschlusskundgebungen. Nach der Begrüßung und ersten Einstimmung durch Kai-Uwe Steffens vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung erzählte annalist, die im letzten Jahr mit ihrer Familie im Rahmen der §129-Gesetzgebung ins Fadenkreuz der Terrorfahnder geriet, sehr eindrücklich aus ihrem täglichen Leben zwischen Repression, Angst und der Schere im Kopf. Wenn man einmal die "dunkle Seite" der Staatsmacht gespürt hat, bewirkt es, dass man jedes Wort am Telefon hinterfragt, sich genau überlegt, was man in eine E-Mail schreibt und welche Internetseite man besucht. Man weiß, dass man überwacht wird und die Angst, dass irgendetwas irgendwann gegen einen verwendet werden könnte, bestimmt die Kernbereiche des Alltags. Dies sollte jedem bewusst sein, auch wenn man sich noch als jemand einschätzt, der "in der Menge untergeht".
Martin Grauduszus von der freien Ärzteschaft protestierte aufs Heftigste gegen die Einführung der E-Card im Gesundheitswesen. Zentral gespeicherte Daten im Gesundheitswesen bergen selbstverständlich die Gefahr von Missbrauch. Die Vorstellung etwa, dass potentielle Arbeitgeber über HIV-Erkrankungen, therapiebedürftige psychische Probleme, Inkontinenz oder Impotenz Bescheid wissen, ist beklemmend. Er bezeichnete diese unnötige Datensammlung ebenfalls als "Vorratsdatenspeicherung".
Freiheit statt Angst-Demo Berlin: Plakat Schäuble Volksfeind Nr. 1Der Protest auf dem 3,6 Kilometer langen Marsch war beeindruckendend, bunt, kreativ und laut: die Clowns Army war dabei, jede Menge Schäuble-Masken wurden gesehen, Aktionskunst, Trommler, massenhaft einfallsreiche Transparente und ein riesiger "Datenkraken" vom FoeBud e.V. Beeindruckend war das breite Bündnis an Menschen, die für die Wahrung ihrer persönlichen Freiheit Gesicht zeigten. Es demonstrierten Rentner, Jugendliche und gestandene Erwachsenen, kleine Kinder krähten Sprechchöre in Megaphone. Arbeitslose liefen neben Gewerkschaftlern und Businessleuten. Sowohl Linke, als auch Grüne und FDP waren sichtbar vertreten (die sonst auf jeder Demo präsenten Jusos hatten an diesem Wochenende Bundeskongress), zum Teil mit hochrangigen Politikern. Das war gut so, denn jeder von uns hat ein Recht auf seine Privatsphäre und die Pflicht, sie gegenüber dem Staat einzufordern.
Transparent Sicherheit TerrorismusBei der von Netzaktivist Padeluun moderierten Abschlusskundgebung durfte als Überraschungsgast Love Parade-Gründer Dr. Motte sprechen, der aus einem mitgebrachten Buch Foucault zitierte. Dessen etwas deplatziert wirkender Auftritt wurde von den anderen, guten Ansprachen wieder wettgemacht.
Organisator Patrick Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, der auch die Verfassungsbeschwerde gegen die VDS entworfen hat, skizzierte zum Abschluss der Veranstaltung eine Welt, in der die momentan allgegenwärtige Überwachung Geschichte geworden ist. Er wies darauf hin, dass die viele Millionen Euro umfassenden für die gesamte Infrastruktur aus beispielsweise IT, Kameras und Datenbanken wesentlich besser investiert wären in Kriminalitätsprävention und eine bessere Ausstattung für die Polizei, die da ist, wenn man sie braucht und abwesend, wenn man sie nicht braucht. Er wolle seinen Kindern einmal sagen können, dass er für ihre Freiheit gekämpft habe. Breyer forderte die Anwesenden zu politischem Engagement auf.
Ralf von netzpolitik berichtete vom Stand der gleichzeitigen Demonstrationen und Aktionen in anderen Ländern, die im Zuge des weltweiten Aktionstages stattfanden. Er verwies darauf, dass die enormen Dimensionen dieser und vergangener Datenschutz-Demonstrationen eine Signalwirkung in die ganze Welt hätten, wo sich mittlerweile gleichsam Widerstand gegen staatliche und privatwirtschaftliche Totalüberwachung formt.
Freiheit statt Angst Demo Berlin Monty von der Hedonist International
Monty von der Hedonistischen Internationale erfasste mit seiner, wie schon im letzten Jahr, mitreißenden Rede die Datenschutzskandale der letzten Woche, nicht ohne dabei den Einsatz der Bundeswehr im Innern auszulassen. Dabei fand er deutliche, kämpferische Worte und beschwor die anwesenden Parteien, ihre hehren Worte nicht zu vergessen, wenn sie einmal nicht mehr in der Opposition, sondern wieder in der Regierungsverantwortung sind.
Die Veranstalter kündigten zum Abschluss an, bereits in Kürze mit den Planungen für das nächste Jahr zu beginnen. Da nicht davon auszugehen ist, dass die Bundesregierung bis dahin innenpolitisch einen Kurswechsel um 180 Grad vollzieht, ist das ein lobenswertes und notwendiges Unterfangen.
Polizisten einsatzbereit in voller Montur
Die Veranstaltung verlief vollständig friedlich. Während die Stimmung im letzten Jahr wegen des nahe zurückliegenden G8-Gipfels noch merklich gereizter war, hielt sich der "schwarze Block" zurück Auch die Polizei provozierte weder, noch ließ sie sich provozieren. Der einzige Zwischenfall, der sich ereignete, geschah, weil nach der Abschlusskundgebung der Weg durch das Brandenburger Tor blockiert war und einer der zwei freien Abzugswege durch die Polizei spontan zusätzlich gesperrt wurde. Dies hatte aber keine weiteren Konsequenzen.
Durch das Regierungsviertel
Eindrücke von der "Freiheit statt Angst"-Demo vermitteln die schönen Schwarzweiß-Bilder von Gustav bei besidethestreet, Netzpolitik-Markus' Fotos bei ipernity, jene vom Autor dieses Artikels und die von anderen Usern im entsprechenden Flickr-Pool.
Quelle
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